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Die Jakobsglöckner von Rorschach

Die Geschichte der Jakobsglöckner von Rorschach beginnt mit der erstmals 857 urkundlich erwähnten Jakobskapelle, dem ersten Gotteshaus in Rorschach. Auf dem Kapellenareal stand auch ein Brunnen, an dem die Bewohner Wasser für ihren täglichen Gebrauch schöpften. Die frühmittelalterliche Anlage diente auch als Bethaus und Raststätte für Jakobspilger. Die Kapelle war dem Apostel Jakobus, dem Schutzpatron der Pilger und Wallfahrer, geweiht. Das tägliche Angelus-Läuten in der Kapelle um 6 Uhr, 11 Uhr und 18 Uhr, begleitet vom Angelus-Gebet und drei Ave Maria markierte die Tageszeiten. Am Morgen galt das Läuten dem Gedenken an die Auferstehung Christi, das Mittagsläuten erinnerte an das Leiden und Sterben Christi und am Abend wurde der Menschwerdung Gottes gedacht.

Im Jahre 1761 überstand die Kapelle den Altstadtbrand des Stadtteils Unterflecken. Bei diesem Brand wurden in der näheren Umgebung 14 Häuser eingeäschert, nur die Jakobskapelle blieb unversehrt. Mit der Weiterentwicklung der Stadt als Hafenstadt, Warenumschlagplatz, Marktort, Ausgangspunkt für Pilger nach Santiago de Compostela sowie dem Aufkommen der Pferdekutschen wurde die Kapelle zu einem Verkehrshindernis. Sie war mittlerweile in einem sehr baufälligen Zustand und wurde auf Wunsch der Bewohner des Quartiers Unterflecken und mit ausdrücklicher Bewilligung der Bischöfe von Chur und St. Gallen abgerissen. Am gleichen Standort wurde darauf der erste Jakobsbrunnen (1833/34) gebaut. Von den rund 50 Brunnen im damaligen Rorschach war der Jakobsbrunnen einer der wichtigsten Wasserspender. Er stand beim Gasthaus „Krone“, nahe der Poststation. Hier wurden die Pferde gewechselt und getränkt. In unmittelbarer Nähe befand sich die „Schmitte“, wo die Pferde neu beschlagen werden konnten. Die ganze Anlage war so konzipiert, dass der Warenumschlag und die erforderlichen Manöver mit den Pferdekutschen bestmöglich ausgeführt werden konnten.

Zur Brunnenanlage gehörte auch ein Glockenturm. In diesem wurde das Glöcklein der abgerissenen Kapelle montiert und der Turm mit einem mechanischen Uhrwerk für Zeitanzeige und Schlagwerk ausgerüstet. In der Mitte des Glockenturms befand sich ein Jakobusfigur und oben drauf stand eine Christusstatue. Das tägliche Angelus-Läuten der Jakobsglocke wurde beibehalten. Die Kosten wurden aufgeteilt. Die katholische Kirchgemeinde war zuständig für den Glockenturm und das Läuten der Glocke, während die politische Gemeinde für die Wasserversorgung und den Unterhalt der Wasserbecken zuständig war.

Der tägliche Einsatz für das Angelus-Läuten führte im Jahre 1867 zu einer heftigen Diskussion unter den Einwohnern des Unterfleckens, denn niemand wollte noch Zeit haben, dieses Amt auszuführen. Nach heftigen Protesten aus kirchlichen Kreisen konnte Pfarrer Johann Gälle die Wogen glätten und es fanden sich wieder motivierte Leute, die das Angelus-Läuten weiterführten. 1879 wandte sich der Bürger Roman Hertenstein besorgt an den Kirchenverwaltungsrat, da er befürchtete, das dreimalige Ave-Maria-Läuten würde dem säkularen Zeitgeist zum Opfer fallen, was seiner Meinung nach sehr zu bedauern wäre. In der Tat verstummte die Glocke noch vor Ende des 19. Jahrhunderts.

62 Jahre nach seiner Erstellung gefiel der mittlerweile baufällige Brunnen manchen Bewohnern nicht mehr. Es wurde daher ein Verein gegründet mit der Absicht, das Bauwerk zu ersetzen. Einheimische Planer und Handwerker bauten einen neuen Brunnen ohne Uhrwerk, dafür mit einer neuen Glocke, hergestellt in der Glockengiesserei in Staad (SG). Die Glocke trägt die Inschriften „St. Jakobus, ora pro nobis“ und „Pax Dominus“. Der Brunnen wurde mit drei Becken ausgeführt, auf dass die Dreifaltigkeit auch optisch erkennbar würde. Auf dem Glockenturm steht eine lebensgrosse Jakobusfigur, die nach Westen zum 2334 km entfernten Santiago de Compostela blickt, dem Ziel jedes Jakobspilgers.

Das Glöcklein aus der Kapelle und dem ersten Brunnen ist heute im MIK, Museum im Kornhaus, in Rorschach zu besichtigen. Ebenso die Nachbildung der Jakobskapelle im Stadtmodell.

Sogar während der Wirren des ersten und zweiten Weltkrieges fand das Angelus-Läuten statt. Im Jahre 1970 konnte der damalige Glöckner sein Amt wegen Krankheit und Gebrechlichkeit nicht weiter ausüben und es fand sich leider kein Nachfolger. So verstummte die Glocke – bis zum 1. Januar 1975. Zuvor, Ende 1974 war ihr Antrieb durch den Einheimischen Karl Keller, alt Eichmeister und Kirchenverwaltungsrat, elektrifiziert worden. Nun wurde das tägliche Läuten reduziert auf zwei Einsätze: um 11 Uhr und um 18 Uhr. Durch die Automatisierung ging viel Menschliches verloren. Es gab keine Gespräche mehr auf dem Weg zur Glocke oder auf dem Heimweg, keine Diskussionen über Vorfälle in der Stadt oder das Weltgeschehen, kein Pilger fragte nach dem Weg.

Im Jahre 2009 hatten zwei Verantwortliche der Fachhochschule für Soziales (FHS) in St. Gallen, Selina Ingold und Mark Riklin, die Idee, die heutige Zeit zu entschleunigen. Das Projekt „Rorschach – Stadt der Sinne“ wurde initiiert mit dem Ziel, die Hektik zu reduzieren, die zunehmende Digitalisierung in der Gesellschaft abzubauen und wieder mehr Sinnlichkeit und Sehnsucht nach Fantastischem ins Leben zu bringen, kurz gesagt, bewusster zu leben. Unter anderem wurde vorgeschlagen, die Jakobsglocke zu „entautomatisieren“ und wieder von Hand zu betreiben. Da ich seit dem 1. Januar 1994 die Technik der Jakobsglocke betreue, wurde ich angefragt, abzuklären, ob es möglich wäre, die Glocke wieder von Hand zu läuten. Auf meine positive Antwort hin suchte man nach Glöckner/innen für den Jakobsbrunnen. Es bildete sich ein Team und ich wurde zum Oberglöckner „Alois“ erkoren. Momentan besteht das Team aus sechs Frauen, neun Männern und zwei „Notglöcknerinnen“.

Seit dem heiligen Pilgerjahr 2010 wird die Jakobsglocke täglich vom 31. März bis 31. Oktober um 11 Uhr und 18 Uhr von Hand während mindestens drei Minuten geläutet. Seither haben Gefühl und Sinnlichkeit wieder Einfluss auf den Glockenklang, denn es gibt Unterschiede, je nachdem wer am Strang zieht. Während der Wintermonate, wenn weniger Pilger unterwegs sind, wird das Läuten automatsch betrieben.

Das Leben rund um den Jakobsbrunnen ist wieder bunter. Menschen begegnen sich und tauschen sich aus und Pilger nehmen sich Zeit, dem Klang der Glocke zu lauschen und ihn mit auf den Weg zu nehmen. Wer von den wasserspendenden Röhren der Dreifaltigkeitsbecken schöpft, so wird überliefert, wird auf seinem weiteren Weg niemals Durst leiden.

In nächster Zeit sind im Zusammenhang mit dem Jakobsbrunnen diverse Änderungen geplant. So soll nach der Korrektion der Hauptstrasse der Brunnen auf dem Jakobsplatz  in die neue Platzgestaltung integriert werden. Der Brunnen erhält wieder, wie bei der Erstellung im Jahre 1896, drei Stufen um das ursprüngliche Erscheinungsbild wieder herzustellen. Die in die Jahre gekommene Jakobusfigur wird erneuert und der Glockenautomat, der nur in den Wintermonaten zur Anwendung kommt, wird ersetzt.

Rorschach, 30. November 2020 / Oberglöckner Alois